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Sunday, 08.07.12 13:20 Uhr

Sekunden vor dem Beben

Von: Dirk Asendorpf
Kleine und billige Frühwarngeräte sollen in Zukunft bei Erdbeben Leben retten.

Erdbeben lassen sich bisher nicht vorhersagen. Geologen können zwar das Risiko für eine Region, eine Stadt und sogar eine bestimmte Straße recht genau bestimmen, doch wann es zur Erschütterung kommt, bleibt ihnen verborgen. Es kann heute passieren, in drei Monaten oder erst in Jahrzehnten. Trotzdem muss man sich von einem schweren Erdbeben nicht schicksalsergeben überraschen lassen. Schon einige Sekunden bevor die Erdstöße ihre zerstörerische Kraft entfalten, können Frühwarnsysteme Alarm auslösen. Geräte, die das ermöglichen, gibt es seit Jahrzehnten. In Japan sind Erdbeben-Frühwarnsysteme schon seit 50 Jahren im Einsatz. Beim ersten Anzeichen eines Bebens stoppen sie zum Beispiel die Shinkansen-Schnellzüge per Notbremsung. Doch die dafür eingesetzten Seismometer waren für den Hausgebrauch viel zu teuer. Ein deutscher Hersteller hat jetzt eine Erdbeben-Frühwarnanlage entwickelt, die sich fast jeder leisten kann.

Das kleine, weiße Gerät sieht aus wie ein Sicherungskasten und muss im Keller fest an Wand und Fußboden verankert werden.

Mit einem schrillen Alarmton warnt es – je nach Entfernung des Epizentrums – wenige Sekunden bis zu einer Minute vor dem Beginn schwerer Erschütterungen. »In vielen besonders gefährdeten Ländern wie Indonesien oder Pakistan sind die meisten Gebäude nur ein- oder zweigeschossig«, sagt Jürgen Przybylak, Gründer und Geschäftsführer des Unternehmens secty electronics in Castrop-Rauxel. »Da ist man in wenigen Sekunden draußen und hat einen sicheren Standort.«

Auch in Hochhäusern kann selbst eine kurze Vorwarnzeit noch Leben retten. »Über das Gebäudemanagement stoppen wir im Ernstfall innerhalb weniger Sekunden die Fahrstühle auf der nächstgelegenen Etage und öffnen die Türen«, sagt Przybylak. Notschalter trennen automatisch Strom- und Gasleitungen von den Netzen. Die meisten Opfer und die größten materiellen Schäden gibt es bei einem Beben nämlich häufig durch Feuer, die von Kurzschlüssen in der Stromversorgung ausgelöst und oft von geborstenen Gasleitungen angefacht werden.

Die einfachste Ausführung kostet 2.000 Euro

Die Frühwarnung ist technisch möglich, weil ein Erdbeben seismische Wellen unterschiedlicher Art und Geschwindigkeit auslöst. »Die schnellste Erdbebenwelle ist glücklicherweise nicht die zerstörerische, sie kann als Warnwelle benutzt werden«, sagt der Erdbebenexperte Jochen Zschau vom Geoforschungszentrum Potsdam. »Erst danach kommen die verheerenden
Sekundär- und Oberflächenwellen an.«

Zusammen mit einigen Kollegen hat Zschau die Software programmiert, die in dem kleinen Frühwarngerät steckt. Die Herausforderung war vor allem, die Zahl der Fehlalarme möglichst niedrig zu halten. »Wenn sie zu oft umsonst aufgeschreckt werden«, sagt der Seismologe, »reagieren die Leute irgendwann nicht mehr.«

In der einfachsten Ausführung mit zwei Sirenen kostet das Erdbebenwarngerät 2.000 Euro. Den vergleichsweise günstigen Preis erreicht secty electronics, indem bewährte Standardbauteile aus einer ganz anderen Branche verwendet werden. In den Warngeräten stecken Sensoren aus den Airbagsystemen der Autoindustrie. Diese Beschleunigungsmesser sind inzwischen so zuverlässig, dass sie bereits leichteste Bodenerschütterungen exakt registrieren.

Das System könnte blitzschnell die Gaszufuhr kappen

Verkauft wurden die ersten Bebenwarner vor allem an Botschaften, Konsulate und reichere Hausbesitzer in besonders gefährdeten Entwicklungsländern. Die Welthungerhilfe, die Caritas und andere Hilfsorganisationen setzen sie beispielsweise ein, um in Westpapua, Kaschmir oder Haiti alle Bewohner eines Dorfes gleichzeitig zu alarmieren.

Jochen Zschau aber denkt bereits weiter: »Mit den billigen Sensoren können wir von zentralen zu dezentralen Frühwarnsystemen kommen.« Vor allem für die besonders von Beben gefährdeten Megastädte wie Istanbul, Tokio oder Mexiko-Stadt eröffnet das ganz neue Möglichkeiten. »Würde man dort Zigtausende Frühwarngeräte verteilen und drahtlos miteinander vernetzen, käme eine Frühwarnung viel schneller bei den Menschen an als bisher.«

Das schweizerische Basel, die erdbebengefährdetste Stadt Westeuropas, hat im kleinen Maßstab bereits mit dieser Vernetzung begonnen. Jürgen Przybylak hat dort in den vergangenen Wochen fünf der Frühwarngeräte installiert und sie per Funknetz verbunden. Im Fall der Fälle soll das kleine System blitzschnell die Gaszufuhr in der Stadt kappen – und zwar genau dort, wo es nötig ist. Fünf große Gasleitungen kommen in Basel an; jede einzelne Übergabestationen kann von einem Frühwarngerät abgesperrt werden. »Aber wenn zwei der Geräte gleichzeitig anspringen,
wird das von dem System als großes Beben interpretiert, und das gesamte Gasnetz wird abgeschaltet«, sagt Przybylak,
»das ist weltweit einmalig.«

Original - Artikel in ZEIT ONLINE, von Dirk Asendorpf